Post mortem

Die "Thalion Software GmbH" war eine Ausnahmefirma. Nicht nur weil ihr Name auf "Húrin Thalion" basierte, einem Helden aus J.R.R. Tolkiens "Silmarillion". Sondern vor allem auch, weil sie für den Atari ST und den Commodore Amiga einige der bedeutendsten Spiele dieser Plattformen entwickelte. Unter anderem "Lionheart" - auf das wir zusammen mit den ursprünglichen Entwicklern und etwas Nostalgiepipi in den Augen zurückschauen.

Das 1988 im westfälischen Gütersloh gegründete Unternehmen verdankt seine Existenz dem Enthusiasmus der Mitglieder der damals noch sehr aktiven Atari ST-Demoszene und deren Ambitionen. Denn der Startkader um Holger Flöttmann und Erik Simon machte sich zur Aufgabe, Spiele zu entwickeln, die restlos alles aus den damals aktuellen Maschinen rausholten. Diese hochgesteckten Ziele konnten zwar nicht immer erfüllt werden - aber in einem Spiel mehr als überdeutlich: "Lionheart".

Erik wollte den ultimativen Plattformer erschaffen: "Lionheart wird das beste Jump & Run, das jemals für den Amiga geschrieben wurde." wurde er in einem Messebericht im ASM 2/93 zitiert. Die Entwicklung begann im November 1991, das Kernteam bestand dabei aus gerade mal fünf Leuten: Den beiden Programmierern Erwin Kloibhofer und Michael Bittner, Grafiker Henk Nieborg, Musikus Matthias Steinwachs sowie natürlich Chefdesigner Erik Simon. Henk und Erwin waren dabei die Küken im Team, die in ihrer Freizeit das Jump 'n' Run "Ghost Battle" entwickelten, das - vorsichtig ausgedrückt - spielerisch eher nicht so prickelnd war (AJ 7/91: 55%). Aber es weckte die Aufmerksamkeit von Thalion, die es nicht nur im April 1991 in die Läden stellte, sondern den jungen Entwicklern auch gleich noch Arbeitsverträge in die Hände drückte. Beide zogen nach Gütersloh, und stürzten sich sofort zusammen mit den anderen auf die Entwicklung von "Lionheart".

Die bis Februar 1993 dauernde Arbeit lief dann im Großen und Ganzen entspannt, wie sich Matthias Steinwachs erinnert: "Ja, wir hatten viel Stress und 16 Stunden dauernde Arbeitstage. Aber wir hatten auch verflucht viel Spaß und wurden damals zu wirklich guten Freunden. Es gab auch keine Marketing-Fuzzis, die uns ins Konzept quatschten, so wie das heute üblich ist. Wir konnten uns einfach austoben. War 'ne schöne Zeit." Henk Nieborg denkt auch gerne an das familiäre Gefühl innerhalb der Firma zurück: "Wir haben gemeinsam gegessen, Laserdisc-Filme und Import-Spiele bei Erik genossen und Spielhallen besucht, um die neusten Games zu zocken. Manfred Trenz schaute immer wieder mal vorbei, um sich alles anzusehen und meine Pixelarbeit 'Geil!' zu nennen. Gute Zeiten!" Es gab in der Erinnerung von Erik genau ein Problem, das das Projekt "Lionheart" fast zum Stillstand gebracht hätte: Erwins Angewohnheit, "Rhythm Is A Dancer" von Snap ebenso laut wie pausenlos laufen zu lassen. "Ich habe diesen Track gehasst! Dann begann er auch noch, das Ding in Kopfstimme ständig vor sich hin zu jodeln, wohl wissend, dass es schlechtes Projektmanagement von meiner Seite wäre, den Hauptprogrammierer zu strangulieren…" Was Erwin auch gnadenlos ausnutzte, wie er zugibt: "Das war ja Teil des Spiels. Mich dieser Gefahr auszusetzen, als knapp 170 Zentimeter-Zwerg einen Zwei Meter-Hünen in den Wahnsinn zu treiben!"

"Lionheart" kassierte vor der Veröffentlichung Tonnen an Vorschusslorbeeren. Über Monate hinweg gab's vor allem in den nationalen Fachmagazinen eine enthusiastische Vorschau nach der anderen. Und was dann im März 1993 auf vier Disketten exklusiv auf dem Amiga veröffentlicht wurde, erzeugte ohrenbetäubendes Jubelgeschrei - die 88% im AJ 1/93 war dabei noch eine der niedrigeren Wertungen, die das Spiel erhielt. Die Tester waren derart voll des Lobes, dass die Rückseite einer Verpackungsvariante folgerichtig auch nur aus enthusiastischen Pressezitaten sowie drei kleinen Screenshots bestand!

Wen wundert's? Alleine optisch war "Lionheart" nicht weniger als eine Sensation, was in erster Linie dem magischen Pixel von Henk zu verdanken ist, der hier zu absoluter Höchstform auflief. Man ist versucht, seinen Stil "pompös" zu nennen, vielleicht auch "verschnörkelt" oder "organisch" - aber in jedem Fall "umwerfend". Satte Farben, zum Teil beeindruckend große Sprites, herrlich verspielte Details, schlicht wundervolle Hintergründe - das Spiel ist bis heute ein Augenschmaus! Henk zog dafür Inspiration aus allem, was ihn umgab: "Ich habe etliche Spiele auf Amiga, Mega Drive, SNES, Neo Geo und den Spielhallen verschlungen. Für die Hintergründe war mir der spanische Zeichner Vincent Segrelle mit seinen "El Mercenario"-Comics ein großes Vorbild, ebenso Künstler wie Rodney Matthews, Boris Vallejo, Michael Whelan oder die Brüder Greg und Tim Hildebrandt." Auch sein Spiegel war ein nützliches Hilfsmittel, denn er formte den "Lionheart"-Helden Valdyn ein bisschen nach sich - etwas, womit ihn seine Kollegen gerne mal aufgezogen haben. Sämtliche Bilder sind direkt auf dem Amiga 500 entstanden, in Deluxe Paint 2, unter Zuhilfenahme einer externen 20MB-Festplatte und etwas Extra-RAM.

Aber es war nicht nur die Grafik an sich, die einem den Atem stocken ließen - es war auch, was mit ihr auf dem Bildschirm gemacht wurde: Beeindruckende Zoom- und Rotationseffekte, die man aus der Spielhalle oder dem SNES kannte, aber nicht vom Amiga. Etliche Parallax-Ebenen in der oberen Bildschirmhälfte sowie feines Zeilenscrolling in der unteren, welche den Levels wundervoll greifbare Tiefe verliehen. Dazu gab es noch einige Abschnitte wie die berühmte Spinnenhöhle, welche dank "Extra Halfbrite Mode" in stimmungsvollen 64 Farben erstrahlten statt der üblichen 32. Möglich war das durch die Programmierhexerei von Erwin und Michael, die für "Lionheart" sämtliche Register ihres Demoszene-gestählten Könnens zogen. So gut sogar, dass eine Zeit lang selbst in Commodore-Kreisen die Meinung vorherrschte, dass das Spiel exklusiv für den Amiga 1200 entwickelt würde.

Die Entwicklung dieser Wundergrafik war allerdings alles andere als ein Kinderspiel, wie sich Erwin erinnert: "Die größte technische Herausforderung war, die Vorder- und Hintergrund-Layer unter einen Hut zu bringen, die ja alle nochmal vertikale Farbverläufe hatten und natürlich unabhängig voneinander scrollten. Das dann noch kombiniert mit dem Wasser-Effekt im Vordergrund, war wohl der schwierigste Teil am Ganzen. Das alles wurde mit Copperlisten und Interrupts bewerkstelligt und musste natürlich schnell genug gehen, damit Bildaufbau und Game-Logik 50 mal pro Sekunde ohne Ruckler erledigt werden konnten. Es wurde also viel Spezial-Code programmiert für die unterschiedlichen Situationen im Spiel. Zum Schluss war es so viel, dass mir keine Zeit mehr blieb, mich um die meisten Gegnerlogiken zu kümmern. Das war dann der Zeitpunkt als Michael Bittner mit an Bord kam. Der hat dann auch noch das Intro übernommen, in dem er seine geliebten 3D-Routinen zur Anwendung bringen konnte."

So gut wie "Lionheart" aussah, so gut klang es auch - und das, obwohl Matthias für die komplette Beschallung, also Musik und Soundeffekte, gerade mal 200 Kilobyte Platz hatte! "Möglich war das alles nur, weil ich den Sonic Arranger statt des üblichen Trackers genutzt hatte, der wirklich enorm platzsparend arbeitete. Zudem habe ich kaum Samples benutzt, fast alles ist synthetisch erzeugt. Sonst wäre das gar nicht machbar gewesen." erinnert er sich. Und dennoch musste dauernd die Schere angesetzt werden: "Die ersten Versuche wurden dann auch alle von Erik mit einem 'Klingt klasse, ist aber zu lang. Mach mal kürzer!' abgeschmettert. Und wenn dann alles stand, kam er mit einem 'Wir könnten noch einen zusätzlichen Song brauchen, dafür müsstest Du die anderen aber nochmal kürzen' um die Ecke." Trotz dieser Widrigkeiten ist das Resultat einer der atmosphärischsten Soundtracks auf der Freundin - kein typisches Jump 'n' Run-Bleepbloing, sondern wunderbar abwechslungsreiche und komplexe Fantasy-Kompositionen, die hervorragend zum Spiel passen. Und zum Teil sogar (wie im herrlichen Intro) taktgenau auf die Bilder synchronisiert sind.

Audiovisuell war "Lionheart" also fraglos ein Meisterwerk - spielerisch dagegen mussten die Superlative spürbar zurückgekurbelt werden. Hier wartet ein überdurchschnittlicher, aber kaum herausragender Plattformer: Sieben Welten mit insgesamt 14 Levels (inkl. Bonusabschnitt), mit zum Teil echt fiesen Sprung-Herausforderungen sowie zwei Horizontalshooterabschnitten - mal in der Luft auf dem Rücken eines Flugdrachen, mal auf dem Boden, sehr offensichtlich vom legendären dritten "R-Type"-Level inspiriert. Die Levels sind groß und verhältnismäßig offen aufgebaut, was einem viel Gelegenheit zur Erkundung und dem Finden von Geheimnissen lässt. Generell ist "Lionheart" eher entschleunigt: Kein Zeitlimit, gemächlich angreifende Gegner, nur selten mal echte Hektik. Was es aber nicht zu einem einfachen Spiel macht: Selbst auf dem niedrigsten der drei Schwierigkeitsgrade ist jeder Level eine mächtige Herausforderung, es gibt keine Speichermöglichkeit oder Passwörter - und Valdyns Schwert ist -verdammt- kurz, wodurch man Feinde auf Kussnähe heranlassen muss, bevor man sie sicher zersäbeln kann. Dieser angespitzte Stummel war meist der Hauptkritikpunkt in damaligen Tests - und er hatte laut Henk in erster Linie technische Gründe: "Wir wollten Valdyn ein schönes langes Schwert geben, wirklich! Aber wir nutzten die Hardware-Sprites des Amigas zur Darstellung von Valdyn und seiner Waffe. Maximal vier Sprites mit höchstens 16 Pixel Breite pro Scanline resultierten dann in einem leider recht kurzen Säbel. Sorry!"

Das Spiel hat übrigens zwei Enden: Ein normales und ein Happy End. Je nachdem, ob man im Vulkanlevel das Amulett gefunden hat oder nicht, hockt Valdyn zum Schluss entweder in sich versunken vor seiner unverändert versteinerten Geliebten Ilene. Oder er legt ihr das Amulett an, woraufhin sie aus ihrem marmornen Schlummer erwacht, und sie verkuschelt den Abspann gemeinsam erleben.

Das Ende des eigentlichen Spiels war aber weniger glücklich: "Lionheart" wurde ohne Kopierschutz veröffentlicht - eine Entscheidung, die Erik folgendermaßen begründet: "Als ehemalige Mitglieder der Demo- und Cracker-Szene wussten wir genau, wie sinnlos das Unterfangen Kopierschutz ist. Wir dachten, entweder können wir mit herausragender Qualität gute Verkaufszahlen erreichen, oder der Amiga ist als Plattform für uns in Zukunft irrelevant…" Und so kam es, wie es kommen musste: "Lionheart" war ein Verkaufsflop, der nicht mal seine eher geringen Entwicklungskosten wieder einspielen konnte. Waren nur die Raubkopierer schuld? Größtenteils ja, aber es kamen auch noch andere Faktoren dazu: Zum einen erschien das Spiel relativ spät im Lebenszyklus des Amigas, und auch noch exklusiv - eine Portierung auf die damals aktuellen 16 Bit-Konsolen wäre zwar sinnvoll gewesen, aber für Thalion nicht machbar: "Weder unser Entwicklungs- noch unser Publishingteam hatten Erfahrung mit den Konsolen", seufzt Erik. Erwin stimmt zu: "Thalion war in erster Linie ein Atari- und in zweiter Linie ein Amiga-Haus. Mit Konsolen- oder PC-Entwicklung hatten wir damals noch nicht viel am Hut. Auf den PC wurde zu der Zeit nur mitleidig herabgeschaut. Konsolen hatte man zwar natürlich im Auge - aber nur, um sich Spiele darauf genauer anzusehen und sich inspirieren zu lassen. Aber bei Thalion selbst gab es nie die Diskussion, jetzt auf Konsolen 'umzuziehen' - unsere Expertise lag bei den Heimcomputern. Vielleicht ein Fehler im Nachhinein ..."

Zum anderen war die Verpackung zu reduziert: Strahlende Augen auf schwarzem Hintergrund, dazu nur das Thalion-Logo ohne den Spielenamen - was sollte man sich darunter vorstellen? Das war laut Erik eine fixe Idee des damaligen Marketing Managers Willi Carmincke: "Unser Marketing-Manager kam ursprünglich aus der Musikindustrie und hatte den Plan, durch einen mysteriösen und supercoolen Ansatz Aufmerksamkeit zu erzeugen. Ist wohl etwas über das Ziel hinaus geschossen." Und nicht zuletzt gab es auch noch diverse interne Probleme, gewürzt mit einer Prise Missmanagement: Nachdem klar wurde, dass das Spiel das Weihnachtsgeschäft 1992 verpassen würde, verlangte Willi von den Entwicklern, dass sie auch die Feiertage durcharbeiten würden, um die Verspätung so gering wie möglich zu halten - etwas, mit dem natürlich keiner einverstanden war, ganz besonders angesichts des Entwicklungsstresses, den man in den Monaten zuvor ertragen hatte. Die beiden Neulinge Henk und Erwin litten besonders darunter, da sie von Willi in Einzelgesprächen komplett rundgemacht wurden - etwas, für das er sich später zwar entschuldigte, aber damals war das der berühmte Wassertropfen zuviel: Die beiden verließen nach dem Ende von "Lionheart" die Firma, um bei Psygnosis anzuheuern und dort die sehr lionheartig angehauchten Jump 'n' Runs "Flink" und "Lomax" zu entwickeln. Kurz darauf zog auch Erik mit einem Großteil seines Entwicklungsteams zu Blue Byte nach Mülheim an der Ruhr, um dort das Rollenspiel "Albion" zu entwickeln. Valdyn war dann noch ein spielbarer Charakter in "Ambermoon", dem letzten Spiel von Thalion, bevor die Firma 1994 die Tore schloss.

Trotz aller Querelen auf der Zielgeraden hat Erik an die Entwicklungszeit nur die besten Erinnerungen: "Es gab nicht viele Spiele, an denen ich beteiligt war, wo mir das Zocken meines eigenen Designs so viel Spaß gemacht hat. Es war uns schon klar, dass wir etwas Überdurchschnittliches produziert haben. Es tat gut, dass zumindest die Kritiken gut waren, wenn wir schon weiter wie wild raubkopiert wurden." Auch Erwin hat im Nachhinein keine bösen Worte übrig: "Die Stimmung bei Thalion war immer sehr gut, wir hatten sehr viel Spaß dort! Und das war auch das, was wir am meisten vermissten, als Henk und ich weggingen."

"Húrin Thalion" bedeutet "Der Standhafte". Der Firma selbst hat dieser Name kein Glück gebracht - aber das Spiel, das ihn mit Stolz auf der Brust trägt, hat den Test der Zeit überdauert. "Lionheart" wird auch in 30 Jahren noch als eines der edelsten Spiele bekannt sein, das je auf dem Amiga veröffentlicht wurde.

Paul Kautz

Eine gekürzte Fassung dieses Textes erschien in der am 12.10.2019 veröffentlichten Sonderausgabe 1/2019 des Amiga Jokers (Bezugsquelle: APC&TCP Amiga Onlineshop).

Die Veröffentlichung auf meiner Homepage erfolgte nach Rücksprache mit Richard Löwenstein und mit freundlicher Genehmigung des Autors Paul Kautz. Ausgabe #46 seines hörenswerten Podcasts "Game not over" ist dem Spiel "Lionheart" gewidmet.